Meinungsfreiheit

Wir protestieren, Herr Erdogan

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Journalisten- und Schriftstellerverbände rufen auf zur Demonstration am kommenden Mittwoch, den 14. Dezember, 17 Uhr auf dem Wilhelmsplatz Stuttgart. 

In der Pressemitteilung des VS heißt es:
Systematische Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei

  • 121 Journalistinnen und Journalisten im Gefängnis
  • 168 Zeitungen, Zeitschriften und andere Medien zwangsweise geschlossen
  • Über 2500 Journalistinnen und Journalisten entlassen und arbeitslos

Seit Verhängung des Ausnahmezustandes in der Türkei durch die Regierung von Präsident Erdogan am 20. Juli 2016 wurden nach Zählung der Europäischen Journalistenföderation (EJF) 121 Journalistinnen und Journalisten verhaftet und in Gefängnisse gebracht (Stand: 16. November 2016); 168 Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender und andere Medien wurden zwangsweise geschlossen (Stand: 29. Oktober 2016); und über 2500 Journalistinnen und Journalisten sind ohne Arbeit und Einkommen. Betroffen sind Journalistinnen und Journalisten sowie Medien, die über die Regierung von Präsident Erdogan kritisch berichten und kommentieren. Die Angriffe der türkischen Regierung auf die Pressefreiheit gehen einher mit Verhaftungen von Oppositionspolitikern und Gewerkschaftern sowie der Entlassung von Richtern, Lehrern und anderen Beamten aus dem Staatsdienst. Davon in besonderem Maß betroffen ist die kurdische Minderheit der Türkei aber auch die Gewerkschaftsbewegung und kritische Bürger. Wir rufen deshalb auf zur
Protestkundgebung gegen die Angriffe der türkischen Regierung auf die Pressefreiheit
am Mittwoch, 14. Dezember 2016, um 17 Uhr
in Stuttgart, Wilhelmsplatz

Unterzeichner/innen: deutsche journalistinnen und journalisten union in ver.di (dju) Baden-Württemberg, Deutscher Journalisten Verband (DJV) Baden-Württemberg, Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) Baden-Württemberg, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Baden-Württemberg, Reporter ohne Grenzen

Bei der Kundgebung sprechen: Joachim Kreibich (Europäische Journalisten Föderation – EJF), Dagmar Lange (DJV), Sakine Esen Yilmaz (Türkische Lehrergewerkschaft, Asylbewerberin in Deutschland), Necati Abay (Journalist aus der Türkei, geflohen nach Deutschland) und Leyla Abay (Mitarbeiterin des verbotenen Radiosenders Özgür Radyo).

Falsch, Frau Merkel!

demokratie

Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel, die vom türkischen Präsidenten geforderten Ermittlungen gegen den Satiriker Böhmermann zuzulassen, hat mich fürchterlich aufgeregt. Grund genug, die Angelegenheit mal nüchtern zu betrachten. 

Was innenpolitisch grundverkehrt ist, ist außenpolitisch womöglich richtig.

Denn Merkel zeigt dem türkischen Diktator Erdogan, dass bei uns nicht die Politik über Rechtsstreitigkeiten entscheidet, sondern ein unabhängiges Gericht. Allerdings glaube ich nicht, dass Erdogan das auch so verseht. Andere Regierungschefs aber sehr wohl. Gleichzeitig soll der Paragraf 103 StGB (der Schah-Paragraf) gestrichen werden, weil er unzeitgemäß ist. Ganz unabhängig von dieser Entscheidung droht Böhmermann sowieso ein Ermittlungsverfahren, weil Erdogan nach Paragraf 185 StGB auch noch mal Strafanzeige gestellt hat.
Insofern hat Merkels Entscheidung, gegen die sich der Koalitionspartner SPD und die Oppositionsparteien Grüne und Linke aussprechen, auf die Situation, in der Böhmermann sich befindet, keine großen Auswirkungen. Allerdings ist die Höchststrafe bei Paragraf 103 fünf Jahre, die Höchststrafe beim Paragrafen 185 aber nur zwei. Böhmermann dürfte momentan allerdings andere Sorgen haben: Vermutlich wird er mit dem Tod bedroht und mit Hassmails bombardiert. Und das ist genauso wenig akzeptabel. Übrigens besteht jetzt bereits Gefahr, dass sich die veröffentlichte Meinung in den Medien gegen Böhmermann kehrt. Auch das halte ich für nicht akzeptabel.

Ja, ich denke schon, dass er vor unseren Gerichten keine Angst haben muss. Die Staatsanwaltschaft Mainz wird, wie sie muss, sowohl zugunsten als auch gegen den Beschuldigten ermitteln und womöglich gar keine Anklage erheben. Oder sie erhebt Anklage, aber das zuständige Gericht nimmt sie nicht zur Verhandlung an. Falls die Klage wegen der großen öffentlichen Bedeutung doch zur Verhandlung zugelassen wird, dann wird sich ein Gericht mit der Frage beschäftigen müssen, ob  ausgesprochene Beleidigungen unter dem Konjunktiv, sie seien welche, wenn man sie gegen eine Person richten würde, immer noch Beleidigungen sind oder eben nicht. Mit Sicherheit wird dieses oder ein anderes Gericht in weiterer Instanz die Freiheit der Kunst als ein hohes Gut ansehen. Böhmermann wird wahrscheinlich nicht verurteilt werden. Auch das ist ein wichtiges Signal an die Diktatoren im Ausland.

Über die Frage, ob die Kunstform und ihre Ausführung gut oder schlecht ist, wird nicht entschieden. Auch schlechte Kunst genießt bei uns den Schutz der Kunst-, Meinungs- und Pressfreiheit. Und das ist gut so. Böhmermann hat mit seinem Auftritt auf die Forderung Erdogans reagiert, die Bundesregierung möge ein Video verbieten, das ihn verspottet und mit Wahrheiten konfrontiert. Mit seinem Auftritt wollte Böhmermann klar machen, dass Erdogan keine Ahnung hat, was Satire ist und was im Unterschied dazu eine Beleidigung. Für das, was Beleidigung ist, hat Böhmermann dann in seinem Gedicht Beispiele genannt. Für uns ist das nachvollziehbar. Wir schmunzeln aber auch über den Trick und lachen hämisch über das, was nicht gesagt werden darf, aber doch gesagt wird. Kennen wir von früher: Da hat man gelegentlich schon mal zu Protestaktionen aufgerufen mit dem Satz: „Es wäre rechtswidrig, wenn ich euch auffordern würde, morgen den Landtag zu stürmen, das darf ich nicht.“ Der Satz ist wahr, also nicht justiziabel. Wenn Akteure ihn „falsch“ verstehen, ist das nicht die Verantwortung des Sprechers. Wir wissen auch nicht mit Sicherheit, ob er es nicht eben doch genauso gemeint hat, wie er es gesagt hat. Dass es nicht so sei, ist eine Unterstellung. Eine „Gewissenserforschung“ darf hier nicht stattfinden. Es zählen die Fakten, hier die komplexe Einheit des Kunstwerks.

Innenpolitisch ist Merkels Signal an uns Künstler/innen, Schriftsteller/innen, Satiriker/innen, Liedermacher/innen und Theaterleute fatal. Grottenfalsch. Müssen wir eben doch Angst haben vor Strafverfolgung, wenn wir Tabus brechen oder in Text und Bild, womöglich etwas übermütig, Mächtige und Mächte anpinkeln? Das müssen die aushalten, dafür haben sie die Macht und meistens auch noch viel Geld und eine Villa. Sie haben sich in die Öffentlichkeit gedrängt, sie müssen öffentliche Projektionsfläche sein, an ihnen entlädt sich Hass und Zorn genauso wie hemmungslose Bewunderung, sie müssen mehr aushalten als mein Nachbar, der sich schon beleidigt fühlt, wenn ich ihn nicht grüße. Aber deshalb kann er mich nicht verklagen.

Unsere Demokratie hält Spott, Satire, Geschrei und sogar lügenhafte Behauptungen aus. Egal von wem gegen wen. Sie hält sogar – wie wir derzeit an den rechten Umtrieben sehen – sehr viel Meinungsfreiheit aus. Unsere Gerichte schützen ja auch die Aufmärsche Rechter vor einem Demonstrationsverbot. So frei sind wir. So stark. Wenn nicht, wären wir kein Rechtsstaat mehr. Dass Staaten sozial stabil und wirtschaftlich stark nur sind, wenn sie eine demokratische Verfassung haben, welche Freiheit, auch Angstfreiheit der Kunst, eigensinnige Lebensentwürfe und die Unabhängigkeit der Gerichte garantiert und damit über dem Präsidenten steht, hat Erdogan noch nicht kapiert oder will er nicht kapieren, genauso wenig wie Putin oder andere Potentaten, die Medien unters Staatsdiktat stellen und Journalist/innen ins Gefängnis bringen oder erschießen lassen.

Aber wir Deutsche dürfen uns sicher fühlen, dass uns der Staatsterror dieser Diktatoren im mehr oder minder demokratischen Mäntelchen nicht erreicht, wenn wir die Wahrheit sagen und uns bei der Kritik ihrer Machenschaften womöglich sogar im Ton vergreifen. Die Wahrheit und der Spott, das sind die einzigen Waffen der Bürgerinnen und Bürger gegen die Macht, die gelegentlich auch mal weh tun. Satire darf alles. Oder eben doch nicht?

Denn jetzt haben wir den Eindruck, als reiche der Arm Erdogans oder anderer Potentaten mit leicht kränkbarer kleiner Seele und großer Herrschsucht über unsere Grenzen tief ins Land hinein und könne sich mit strafender Faust einen rausgreifen und zerquetschen. Und noch schlimmer: Wir haben den Eindruck, als knicke Merkel vor dem türkischen Präsidenten ein, weil sie ihn politisch braucht, um die Kriegsflüchtlinge aus Europa und damit auch Deutschland fernzuhalten. Was im übrigen auf Dauer nicht funktionieren wird, und was ich persönlich auch für unmenschlich halte.

Deshalb ist Merkels Entscheidung innenpolitisch verheerend. Vermutlich leider zu klug, zu unemotional, vermutlich außenpolitisch und staatsmännisch richtig, aber eben doch auch so traurig und mies, dass wir Künstler/innen uns aufregen, uns ereifern und  protestieren müssen. Auch laut! Aber fair und respektvoll. Wer, wenn nicht wir!

Christine Lehmann

P.S. (17.4.16):Vielleicht war Merkels Entscheidung doch auch nicht einmal außenpolitische so klug. Zumindest sieht die Washington Post sie als Ermunterung an andere Potentaten an. Diese Einschätzung muss allerdings auch nicht stimmen. Immerhin will die Bundesregierung den unseligen Paragrafen ja streichen.

P.P.S. Am 22.4.2016 räumt Merkel ein, einen Fehler gemacht zu haben.

VS Baden-Württemberg