Skandal

Ich bin entsetzt, Frau Lewitscharoff

Sybille Lewitscharoff
 Foto: Wikipedia 

Ich sage dies zu allererst in meinem eigenen Namen, zugleich aber auch als Vorsitzende des Verbands deutscher Schriftsteller Baden-Württembeg, wenngleich ohne dafür einen Auftrag von den Mitgliedern des Verbands bekommen zu haben. 

Ich bin entsetzt über die Rede, die die Büchnerpreisträgerin 2013, Sibylle Lewitscharoff, am Sonntag in Dresden im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Dresdner Reden“ gehalten hat. 

Die ehemalige Schülerin des Stuttgarter Heidehof-Gymnasiums hat dabei Worte gebraucht, die mir Angst machen. Und zwar, weil sie bestimmte Menschen zu „Nicht-Menschen“ erklärt. Nämlich solche, die aus künstlicher Befruchtung entstanden sind.

Zweifelhafte Geschöpfe
Abscheu äußerst Lewitscharoff für Kinder, die im Reagenzglas gezeugt wurden. Sie nennt sie „Halbwesen“, „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“ Und weiter: „Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft. Wie verstörend muss es für ein Kind sein, wenn es herausbekommt, welchen Machinationen es seine Existenz verlangt“. Um künstliche Befruchtung künftig zu verhindern, solle man Onanie verbieten.

Der Nazivergleich
Und wie vielen Menschen, die ihre Abscheu einem Verhalten gegenüber bekräftigen und sie rechtfertigen wollen, sucht sie einen Vergleich, der das vermeintlich Schändliche objektivieren soll, und findet ihn im Nationalsozialismus. „Angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor.“

Sexueller Fundamentalismus
Da kommt es fast harmlos daher, dass sie Sexualität, die nicht der Zeugung im Mutterleib dient, verboten sehen will, nämlich einen so harmlosen Akt wie Onanie. Was ist los bei uns? Ist das der Backslash religiös verquasten Fundamentalismus, der neuerdings in Baden-Württemberg schon dagegen zu Felde zieht, dass das Thema sexuelle Vielfalt in der Schule thematisiert werden soll? Dürfen wir das Andere in Deutschland neuerdings wieder unter Applaus reaktionärer Kreise rhetorisch aus dem Dorf jagen?

Wohin wird dieser Weg uns führen?

Der Chefdramaturg des Schauspielhauses, Robert Koall, hat einen Offenen Brief verfasst, den er mit den Worten beendet: „Ihre Worte sind nicht harmlos, Frau Lewitscharoff. Aus falschen Worten wird falsches Denken. Und dem folgen Taten. Deshalb sind es gefährliche Worte.“

Dem schließe ich mich an.
Christine Lehmann

P.S.: Ihre Rede dauerte eine Dreiviertelstunde und ist eine persönliche Schilderung ihres Verhältnisses zum Tod und zum Leben. Sie thematisiert vieles, bei dem viele von uns zustimmend nicken werden. Wie wollen wir sterben? Wie viele lebensrettende Maßnahmen sind notwendig. Mit Sprachmacht verunglimpft sie alles, was ihr zu eigenwillig, zu egoistisch, zu selbstbestimmt erscheint. Selber kinderlos geißelt sie die heutigen Wege von Paaren (auch lesbischen), sich einen Kinderwunsch zu erfüllen. Für Sie alles „Widerwärtigkeiten“, die vom „Teufel ersonnen“ sind.

Nein, Frau Lewitscharoff, es ist nicht leicht, die Dinge zu begreifen und das Andere zu verstehen. Und das Dilemma etwa von lebenserhaltenden Maßnahmen ist nicht zu lösen. Die Medizin ist ein Segen oder ein Fluch. Ja, wir muten uns viel zu, weil wir mehr technische Möglichkeiten haben, die von uns mehr Entscheidungen erfordern. In der Tat stellen uns pränatale Diagnosen einer schweren Erkrankungen vor schwierige Entscheidungen, für die weder wir persönlich noch unsere Gesellschaft genug Weisheit besitzen.

Aber alte Antworten helfen nicht. Wir können uns nicht in Zeiten zurückwünschen, in denen die Wissenschaft weniger Möglichkeiten der Heilung zu Verfügung stellte und Menschenleben – das von Kindern oder Alten – schwerer zu retten waren. Die Sehnsucht nach Einfachheit ist verständlich, aber sie ist einer Schriftstellerin nicht würdig. Wissenschaftsfeindlichkeit ist eine gefährliche Dummheit

Offener Brief 
Glosse in der Zeit

Rede im Wortlaut (43 Min) (Was mich entsetzt, sagt sie ab etwa 17 Minuten vor Ende)

VS Baden-Württemberg