Wir trauern um Dieter Schlesak
Unser Mitglied Dieter Schlesak ist am 29. März 2019 in seiner zweiten Heimat Camaiore in der Toskana im Alter von 84 Jahren gestorben. Sein letzter Verleger, Traian Pop vom Ludwigsburger Pop-Verlag, würdigt ihn in einem persönlichen Nachruf.
Dieter Schlesak hat diese Welt, die er so geliebt und deswegen unentwegt mit ihr gehadert hat, am 29. März 2019 verlassen. Uns bleibt nur, sein Werk weiterhin zu begleiten und zu verbreiten. Es ist eine Herkules-Aufgabe, aber wir finden sie zwingend notwendig, da er nicht nur vieles hinterlassen, sondern uns zeit seines Lebens so viel Lesens- und Bedenkenswertes geschenkt hat: Vaterlandstage, Capesius der Auschwitzapotheker und TranssylWAHNien, um nur drei seiner besten Romane zu nennen, sowie unzählige Gedichte und Essays (die von uns geplante Werkausgabe wird mehr als 23 Bände haben).
Dieter Schlesak, 1934 in Schäßburg/Siebenbürgen geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren von Lyrik, Romanen, Essays über Literatur, Grenzphänomene und Religion sowie von Reiseberichten. Er machte sich auch einen Namen als Übersetzer und Herausgeber, unter anderen Gefährliche Serpentinen – Rumänische Lyrik der Gegenwart, „EDITION DRUCKHAUS neunzehnhundert achtundneunzig“. 1968 erschien sein erster Gedichtband Grenzstreifen im Bukarester Literaturverlag. 1969 emigrierte er nach Deutschland, der Kulturschock und das Ost-West-Trauma beherrschten von da an Schlesaks Schreiben. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen u. a.: Weiße Gegend. Fühlt die Gewalt in diesem Traum (1981), Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (1986), Aufbäumen (1990), Wenn die Dinge aus dem Namen fallen (1991), Stehendes Ich in laufender Zeit (1994), So nah, so fremd (1995), Eine transsylvanische Reise (2004), Der neue Michelangelo (drei Bände, 1989–1991), Der Verweser (2002), Romans Netz (2004), Capesius, der Auschwitzapotheker (2006, u. a. ins Englische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Hebräische übersetzt), Herbst Zeit Lose (2006), Vlad. Die Dracula-Korrektur (2007), Namen Los (2007), Heimleuchten (2009), Licht Blicke (2012), TranssylWAHNien (2014).
Schlesak erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Andreas-Gryphius-Preis (1980), Nikolaus-Lenau-Preis (1993), Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2001), Umberto-Saba-Preis (2006), Maria-Ensle-Preis der Kunststiftung Baden-Württemberg (2007), Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest (2005). Sein Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
Lieber Dieter, seit ich erfahren habe, dass ich dich nie wieder anrufen kann, stöbere ich in den Texten,
die du mir zur Veröffentlichung überlassen hast – um dich auf diesem Weg zu erreichen und dir nahe zu sein. Deswegen sei hier für alle, die dich im Laufe deines Lebens gelesen und geschätzt und geliebt haben, eines deiner Gedichte zum Trost beigefügt.
Dieter Schlesak
ES GEHT ZU ENDE, WAS BISHER WAR,
und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,
wir werden uns nie mehr wiedersehn,
wir werden vergessen
Man sieht’s an der Luft, an den Augen der Leute,
überall rollen sie die Erinnerungen ein,
heut sah ich Fotos der Siebzigerjahre, da waren
wir jung und alles schien offen,
du stiegst in den fahrenden Zug,
der kam nie an
und fuhr ab nur zum Schein
Alt sind unsere Gefühle geworden.
Und oft ist es kalt und du spürst nur Gewohnheit,
als wäre über den Augen ein Schleier,
und wir gehen mit Abwesendem um
In allem spür ich schon das Vergessen
und die Leute sehn mich gar nicht mehr an;
so denk ich: Vielleicht bin ich plötzlich gestorben
und hab’s nicht bemerkt, bin unsichtbar geworden
Es ist nicht nur die Liebe, die jetzt vergeht,
es ist nicht nur Eiszeit der Sinne, es liegt
ein Stillstand um uns in der Luft, der uns Angst macht
und uns den Atem verschlägt
Denn es geht zu Ende, was bisher war,
und die Stimmen sind fern wie morgens um fünf,
wir werden uns nicht mehr wiedersehn,
wir werden vergessen, am Leben zu sein
Foto © Traian Pop